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Postfaktisch oder einfach nur verzerrt?

07. Dezember 2016

  • Erstellt von Jens Kube
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  • A Wissenschaftskommunikation
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Schon die Wissenswerte in Bremen in der vorigen Woche öffnete mit einer düsteren Referenz auf die postfaktische Weltsicht, die sich in Entscheidungen wie dem Brexit oder der kommenden Präsidentschaft von Trump manifestiert. Auch im Workshop „Deutschland 2030 – Roadmaps in die Zukunft“ vor Beginn der eigentlichen Tagung waren Trump und die „Post-Truth“ ein Motivationspunkt für eine gemeinsame Zukunftsarbeit. Unter der Workshopleitung von Beate Schulz-Montag und Karlheinz Steinmüller vom Projekt „Deutschland 2030“ erarbeiteten zwei Gruppen Zukunftsszenarien rund um das Themenfeld Integration und Flüchtlingskrise.

Die Workshopinhalte waren echte „Downer“. Zwei unterschiedliche Szenarien für die Weiterentwicklung Deutschlands bis in das Jahr 2030 sollten diskutiert, erweitert und in Form einer Roadmap ausgearbeitet werden. Die Vorgaben: Selbstmordanschläge, rechtspopulistische Regierung und Exodus der Eliten. In einer erschreckenden Lust an der Apokalypse konstruierte die Teilnehmer_innen daraus einen Zeitstrahl aus diesen und anderen Ereignissen und Entwicklungen, die bis etwa 2025 in einen Bürgerkrieg und einer Aufspaltung Deutschlands in Kleinstaaten mündete (Auf Bild klicken für die lesenswerte große Version).

Was wir daraus lernen sollten oder wie dieses Szenario tatsächlich in die Politikberatung einfließen könnte, blieb für mich am Ende teilweise offen. Was allerdings blieb, war der schale Beigeschmack, dass solche Szenarien sich gar nicht so unrealistisch anfühlen (sic!).

In der Forumseröffnung von Markus Weißkopf dauerte es nur wenige Sekunden, bist das Wort vom „Postfaktischen“ fiel. Andreas Zick berichtete ausführlich über die Ursachen, die Einstellungen und Entscheidungen der Menschen fernab der Fakten prägen. Die Keynote am Dienstag Vormittag von Melanie Smallman: über Wissenschaftskommunikation im postfaktischen Europa. Und auch in viele andere Sessions bis hin zur Preisverleihung beim Fast-Forwards-Science-Videowettbewerb fand ein Bezug zur wenig faktenorientierten Entscheidung Platz. Das Tagungs-Buzzwort: postfaktisch.

Was können wir als Wissenschaftskommunikator_innen von den vielen Bezügen zu dieser neuen (?), nun aber auch politikbestimmenden (?) Wirklichkeitswahrnehmung lernen. Gibt es überhaupt ein „postfaktisches Zeitalter“ – und wenn ja, wie lang wird es dauern?

Andreas Zick rückte das Begriffliche zurecht: „Postfaktisch ist ein falscher Begriff, es geht um Verzerrung.“ Dekliniert man dies durch, dann wird es schnell metaphorisch-geophysikalisch: Durch die Verzerrungen entstehen Verwerfungen, die sich in Beben entladen können. In vielen kleinen oder wenigen verheerenden. 

Ich bin überzeugt, dass wir an genau dieser Stelle ansetzen sollten und auch können. Ein „Zeitalter der Verzerrung“ klingt nicht so übermächtig, ja geradezu zeitlich begrenzt. Die Spannungen zwischen wissenschaftlicher Wahrheit und persönlicher Wahrnehmung müssen aufgebrochen und dadurch abgebaut werden. Und zwar in vielen kleinen Beben: Die Forschungseinrichtungen müssen sich trauen, deutlich und politisch Stellung zu beziehen. Aus einem „unsere Daten deuten auf eine Wahrscheinlichkeit eines menschengemachten Klimawandels von 99% hin“ muss auch mal „wer den Einfluss des Menschen negiert, der erzählt Unsinn“ werden – nicht nur in Krawalltalkshows.

Fakten widersprechende Behauptungen sind Unfug und müssen auch als solcher benannt werden, selbst wenn die inhaltlichen Gegner_innen darauf beleidigt reagieren. Das müssen wir aushalten und so denjenigen, die inhaltliche Orientierung suchen, einen festen Halt geben.


1 Kommentare

  1. Josef König am 07.12.2016

    Danke! Ich stimme mit Herrn Zick überein und sehe im Begriff "Postfaktisch" eine Modeerscheinung oder "virales Marketing" tätig. Dabei ist der Begriff für mich gleichzeitig ein Distinktionsmittel, um ich vom so genannten Pöbel oder von rechten Gruppierungen abzuwenden. Dass er damit zugleich die Hybris des "Besserwissers" transportiert, ist eine weitere Konnotation.

    Letztlich ist es so, dass unsere - sagen wir - antiintellektuellen Kontrahenten auch Fakten wahrnehmen, nur stimmen diese Fakten nicht mit unserer Wahrnehmung überein. Nun kann mal lang philosophieren, woran das liegt. Ich sehe darin eine Auswirkung der zunehmenden Segmentierung von Öffentlichkeit, nicht nur, aber u.a. auch durch Algorithmen. Wenn jeder nur noch die Fakten in seiner eigenen Blase, lebt er - um ein altes Bild zu bemühen - ebenso mit Scheuklappen, wie jene, die Fakten aus ihrer anders gearteten Blase wahrnehmen. Es gibt nicht mehr die "Einheit von Tagesschau, FAZ, Bild, und Durbridge" (letzter genannt, damit jüngere was zu "googeln" haben ;-). Und weil das so ist und uns die Algorithmen in Gruppen zusammenschmieden, grenzen wir uns von anderen Fakten ab. Da die Anonymität im Netz zudem Aggression begünstigt, ist der Schritt zum "Hassreden" nicht weit.

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