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Es ist Zeit – Teil 3: Orte, an denen ich die Zeit vergesse

20. August 2018

  • Erstellt von Nadine Schlichting
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Ein Beispiel für architektonische Mußeräume: Die Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin, Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum, Leseterrassen. Foto: Matthias Heyde Array

Ein Beispiel für architektonische Mußeräume: Die Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin, Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum, Leseterrassen. Foto: Matthias Heyde

Warum erscheinen uns manche Momente wie eine Ewigkeit, andere wiederum vergehen wie im Flug? Was beeinflusst unser Zeitempfinden? Diese Fragen beschäftigen auch Nadine Schlichting: Sie ist Hospitantin bei WiD und promoviert in Experimenteller Psychologie an der Universität Groningen zum Thema Zeitwahrnehmung.

In unserer neuen dreiteiligen Blogreihe „Es ist Zeit“ erklärt Nadine das Phänomen der subjektiven Zeitwahrnehmung. Dabei holt sie Anregungen aus dem Alltag, verknüpft ihre Beobachtungen mit Experimenten und Erkenntnissen aus der Forschung – und entwirft mitunter eigene Theorien. Im dritten Beitrag erklärt sie, wie die Atmosphäre im Raum unser Zeitempfinden beeinflusst. 

 

Es ist Zeit – Teil 3: Orte, an denen ich die Zeit vergesse

Was unterscheidet ein Wartezimmer beim Arzt von einem Shopping-Center? Richtig: Die gleiche Dauer vergeht in einem Shopping-Center viel schneller als im Wartezimmer. Zeit kann sich in verschiedenen Räumen unterschiedlich schnell oder langsam anfühlen.

Durch das Zusammenspiel aller physikalischen Eigenschaften eines Raumes, also zum Beispiel Größe, Helligkeit, aber auch die Anordnung von Einrichtungsgegenständen, entsteht eine bestimmte Raumatmosphäre, die laut Soziologin Martina Löw das Potential des Raumes Emotionen zu erzeugen ist

Wie genau sich die Raumatmosphäre auf unser Zeitempfinden auswirkt, ist durch wissenschaftliche Experimente schwierig zu beantworten, da es viele zu kontrollierende und schwer messbare Einflüsse auf die Versuchspersonen gibt. Wenn zum Beispiel die Bahn auf dem Weg zum Experiment ausgefallen ist, kommen Versuchspersonen schon mit einer verärgerten Grundstimmung an und haben allein deshalb schon eine veränderte Zeitwahrnehmung. Forscherinnen und Forscher des Projekts „Muße. Grenzen, Raumzeitlichkeit, Praktiken“ der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg stellen sich dieser Aufgabe: Sie untersuchen, wie sogenannte Mußeräumen das Zeitempfinden beeinflussen. Mußeräume sind Räume oder Gebäude, die den Besucher durch ihre Architektur dazu einladen, in dem Raum zu verweilen, den Alltag hinter sich zu lassen und die Zeit zu vergessen. Typischerweise fallen Bäder, Bibliotheken, Andachtsräume und Museen in diese Kategorie.

Um herauszufinden, ob sich das Warten in einem Mußeraum von einer typischen Wartesituation in einem Arztwartezimmer unterscheidet, verbrachten die Versuchspersonen jeweils 90 Minuten ohne jeglichen Zeitgeber, wie zum Beispiel Uhren oder Smartphones, in diesen beiden Räumen und wurden danach zu ihrem Zeitempfinden befragt. Erste Forschungsergebnisse zeigen, dass die subjektive Wahrnehmung der Raumatmosphäre für das Zeitempfinden eine wichtige Rolle spielt: Wurde ein Raum als besonders lebhaft wahrgenommen, schätzten die Versuchspersonen ihren Aufenthalt in diesem Raum als länger ein. Wirkte ein Raum eher unangenehm und distanziert, nahmen die Versuchspersonen die Wartezeit viel bewusster wahr. Was das Forscherteam außerdem überraschte: „Insgesamt nahmen die meisten Teilnehmenden die Wartezeit als angenehm wahr. Gerade die Abwesenheit ihres Smartphones haben sie als Befreiung empfunden.“, so die Psychologin Sonja Ehret.

Nun verbringen wir in unserem Alltag wahrscheinlich eher wenig Zeit in Mußeräumen, sondern sind Zuhause, unterwegs oder im Büro. Ob man sich in einem Einzelbüro, einem Großraumbüro oder einem kreativ gestalteten Designer-Büro wohler fühlt, kommt wahrscheinlich ganz auf die jeweilige Person und dessen Arbeit an. „Neue Konzepte für Großraumbüros berücksichtigen bereits diese individuellen Bedürfnisse, indem sie Räume für Kommunikation, aber auch Räume für Rückzug innerhalb eines großen Raumes schaffen.“, meint Sonja Ehret.

Mein Fazit: Je angenehmer ich einen Raum wahrnehme, desto weniger ist mir bewusst, dass die Zeit vergeht. Das wäre im Arbeitsleben und Alltag wünschenswert: Es käme keine Langeweile auf, wenn mal weniger los ist und in stressigen Situationen scheint nicht jede Minute zwischen den Fingern zu zerrinnen. An dieser Stelle ein Appell an alle Chefs: Machen Sie es Ihren Mitarbeitern so gemütlich wie möglich!

 

Bei diesem Beitrag wurde ich unterstützt von Sonja Ehret. Sie promoviert zum Thema Raumatmosphäre, Zeitwahrnehmung und Erwartungen in Mußeräumen unter der Betreuung von PD Dr. Roland Thomaschke am Institut für Psychologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Für alle, die sich gerade in Berlin aufhalten und sich nach ein wenig Muße sehnen, hat Sonja einen Tipp, um mal die Zeit zu vergessen: Das Jacob-und-Wilhelm-Grimm Zentrum sowie die Staatsbibliothek zu Berlin sind moderne architektonische Mußeräume, in denen man eine besondere Raumatmosphäre erleben kann.


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