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Ideologie versus Empirie?

01. Dezember 2021

  • Erstellt von Simon Esser
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  • B Wissenschaft im Dialog
Pia Lamberty ist Geschäftsführerin und Mitbegründerin von CeMAS, Center für Monitoring, Analyse und Strategie gGmbH. Foto: WiD Array

Pia Lamberty ist Geschäftsführerin und Mitbegründerin von CeMAS, Center für Monitoring, Analyse und Strategie gGmbH. Foto: WiD

Was kann Wissenschaftskommunikation gegen Verschwörungserzählungen tun?

Verschwörungserzählungen haben seit Beginn der Corona-Pandemie viele Menschen erreicht und mediale Aufmerksamkeit erfahren. Die Sozialpsychologin Pia Lamberty, Geschäftsführerin des Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS), erforscht die Radikalisierung von Menschen durch Verschwörungserzählungen und Ablehnung von Demokratie. In ihrer Keynote betont sie, dass man für die Bekämpfung von Verschwörungsmythen mehr über die Motivation der Verbreiter*innen wissen müsse.

Die Attraktivität von Verschwörungstheorien verstehen

Zunächst einmal müsse man hierfür zwischen Falschinformation, Desinformation und Verschwörungserzählung unterscheiden. Die zentrale Frage laute: Handelt es sich um absichtliche Täuschung? Falschinformationen gingen in der Regel mit geringer thematischer Beschäftigung einher: Dabei würden emotionalisierte Inhalte verbreitet, die sich im Einklang mit der eigenen Meinung befinden. Die Übernahme erfolge unter Zeitknappheit, es fehlten die Ressourcen oder die Bereitschaft, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Desinformationen dagegen dienten der bewussten Täuschung. Verschwörungstheorien wiederum gingen von einem Geheimplan aus, welcher der Gesellschaft schaden soll. Die Erforschung der Gründe für die jeweilige Hinwendung zu diesen Theorien sei jung. Die Disziplin sei maßgeblich durch die Publikation von Whitson & Galinksy in der Zeitschrift „Science“ 2008 in Erscheinung getreten.

Für die Attraktivität von Verschwörungstheorien macht Lamberty drei zentrale Motivationen aus: Im Falle existenzieller Motive würden sie das Ohnmachtsgefühl gegenüber chaotischen und schwierig zu entschlüsselnden Zusammenhängen adressieren. In einer komplexen Welt und in Krisensituationen sei dieses Angebot attraktiv, da es Kontrollverlust kompensiere und scheinbar Struktur biete, so Lamberty: „Weil das Gefühl, in Kontrolle zu sein, so ein basales menschliches Bedürfnis ist.“ Für die Psychologin spielen daneben soziale Motive eine Rolle: Verschwörungserzählungen böten eine Community-Erfahrung. Das Identitätsgefühl der Gruppe, ein „kollektiver Narzissmus“, führe dazu, die eigene Gruppe als überlegen wahrzunehmen. Die Hinwendung zu Verschwörungsideologien könne epistemisch motiviert sein. Durch das scheinbare Ausmachen von Mustern wirke die Welt handhabbar.

Das Weltbild der Verschwörungstheoretiker*innen verstehen

Das Weltbild der Verschwörungstheoretiker*innen visualisiert Lamberty in zwei Pyramiden, die sich systemisch gegenüberstehen: Outgroup und Ingroup. Das Fundament der Outgroup besteht dabei aus sogenannten „Schlafschafen“ – „die Menschen, die die Tagesschau schauen“. Diese seien aus Sicht der Verschwörungstheoretiker*innen einerseits Opfer des Systems, andererseits Täter*innen, da sie das System als Mitläufer*innen stabilisierten. Die entsprechende Bevölkerungsgruppe werde in diesem Szenario überwacht und verführt – durch öffentlich-rechtliche Medien, Popkultur oder technische Instanzen wie den 5G-Ausbau. Dies erfolge durch ein mittleres Management in Form von Polizei, Justiz und Wissenschaftler*innen. Die Spitze der Pyramide stelle eine böse Elite dar, die die angeblich vorliegende Verschwörung koordiniert, beschreibt Lamberty. Hieran würden auch antisemitische Motive anknüpfen. Das „Die da oben“-Narrativ gehe häufig mit einer Überschätzung von (individueller) Macht einher. Es komme zu einer Vermenschlichung von Strukturen und Zusammenhängen, einhergehend mit esoterischen Weltbildern.

Der Übergang aus diesem Gebilde hin zur Ingroup werde durch die Akteure häufig als eine spirituelle Reise beschrieben. Ein wiederkehrendes Motiv stelle ein sogenannter Erweckungsmoment dar. Dieser entstehe laut Befragungen der Akteur*innen häufig im Zusammenhang mit gesehenen YouTube-Dokumentationen. „Nach dem Transfer in die Ingroup kommt es häufig zum Streit um die heroische Leitfigur, wie man zuletzt auch im Falle der Querdenken-Bewegung beobachten konnte. Der kollektive Narzissmus erweist sich als fragil.“

Überblick über die Szene

Im Verschwörungsmilieu bewegen sich laut den Erhebungen von Pia Lamberty in Deutschland etwa 200.000 Menschen. Zu Hochzeiten der Hygiene-Maßnahmen-Demos wurden 40.000 Menschen mobilisiert. Zuletzt waren ungefähr 8.000 Menschen anwesend. Somit ist die Zahl der aktiven Teilnehmer*innen erheblich zurückgegangen. Auf der Einstellungsebene lässt sich dieser Rückgang weniger nachvollziehen: Die Zustimmungswerte von Theorien, nach denen es sich bei Corona um einen Schwindel handelt, ist Pia Lamberty zufolge beständig: „Etwa jede(r) fünfte Deutsche hat eine Affinität für Verschwörungsglauben.”

Verschwörungsmythen sind zwar kein neues Phänomen, doch Lamberty sieht durch die digitale Mobilisierung neue Möglichkeiten der Vernetzung. Insbesondere der Messengerdienst Telegram sei stark in den Fokus von Verschwörungsmytholog*innen gerückt. „Neben unbegrenzt hohen Teilnehmer*innen-Zahlen für Gruppen bietet es Funktionen des Darknets, ohne entsprechende Zugangshürden aufzuweisen: Hier werden gefälschte Impfpässe gehandelt, zu Gewalt gegen Einzelpersonen aufgerufen und Waffen feilgeboten”, sagt Lamberty. Die Frage aus dem Publikum, inwieweit sie eine Überwachung von Telegram als wünschenswert erachte, beantwortet Lamberty differenziert: „Andererseits bietet Telegram in totalitären Regimen Oppositionellen eine Möglichkeit zum Austausch. Derzeit ist eine Überwachung von Telegram auch rechtlich in Deutschland nicht gestattet, da die App als Messenger und nicht als Social Media eingeordnet ist.“ Doch auch im Falle der angestrebten Gesetzesänderung erscheine ihr eine Durchsetzung gegenüber Anbietern im Ausland schwierig. Lamberty relativiert jedoch: „Die Nachrichten sind in der Regel ohnehin öffentlich zugänglich – wir benötigen schlichtweg eine konsequente Strafverfolgung.“

Was kann die Wissenschaftskommunikation tun?

Neben dem juristischen Weg sieht Pia Lamberty bei der Bekämpfung von Verschwörungstheorien auch die Wissenschaftskommunikation und den Journalismus in der Verantwortung. Sie fordert, dieser Verantwortung im Agenda-Setting nachzukommen: „Es muss nicht jede Kleinigkeit von Michael Wendler verbreitet werden“, sagt Pia Lamberty. Wenn jedoch antisemitische Narrative Einzug finden, sei es notwendig, dies publik zu machen. Eine bekannte Strategie der Verschwörungsszene sei das Aufstellen „alternativer Experten“. Lamberty führt unter anderem Boris Reitschuster an. Aufgrund seines Zugangs zum Bundespressedienst könne er die Agenda der Querdenker*innen durch Fragen im öffentlichen Diskurs platzieren und legitimieren. Wissenschaftskommunikator*innen stünden daher in der Pflicht, „False Balance“ transparent machen.

Weniger bekannt ist nach Lambertys Einschätzung das Phänomen des ELSD, „erring on the side of the least drama“. Durch die „Angst, als ‚hysterisch‘ wahrgenommen zu werden“ oder ins Fadenkreuz von Kampagnen zu geraten, würden Forschende häufig Drastik vermeiden. Vor dem Hintergrund der Klimakommunikation mahnt Lamberty: „Eine kritische Reflexion von Wissenschaftler*innen darf nicht nur in die Richtung erfolgen: Überbetone ich einen Effekt? Sondern: Verringere ich die Dramatik eines Effekts, weil ich Angst davor habe, wie gesellschaftlich darauf reagiert wird?“

Auch bei der Vergabe von akademischen Titeln müssten Universitäten ihre Verantwortung reflektieren, fordert Lamberty. Ihrer Einschätzung nach stellen diese eine wichtige Rolle als Authentizitätsmarker für Expertentum dar und könnten, da die Bevölkerung sie schwerlich validieren kann, missbraucht werden, wie das Beispiel der Flugblattaktionen der sogenannten Freiheitsboten demonstriert hat. Es sei Aufgabe der Wissenschaftskommunikation, neue Kriterien zu entwickeln, die der Bevölkerung eine qualitative Einordnung wissenschaftlicher Arbeit und Akteure erlauben.

Im Zuge zunehmender Übergriffe gegen Forschende sieht Lamberty es als notwendig an, Schutzmaßnahmen zu thematisieren. Eine Auseinandersetzung mit diesem Thema und die Bereitstellung solcher Schutzmaßnahmen für Wissenschaftler*innen, die in der Öffentlichkeit kommunizieren, müsse durch Universitäten und durch die Wissenschaftsgesellschaft gewährleistet werden. „Es kann nicht sein, dass man das mit der eigenen persönlichen Sicherheit bezahlen muss.“

Keynote: Ideologie versus Empirie? Wie Verschwörungserzählungen unsere Welt beeinflussen

Dieser Beitrag ist Teil der Dokumentation zum Forum Wissenschaftskommunikation 2021. Zur kompletten Dokumentation des #fwk21 geht es hier.

Die Keynote zum Nachschauen im Video sowie weitere Sessions des #fwk21 gibt es außerdem auf YouTube


1 Kommentare

  1. sc am 01.10.2023

    Ein Verzeichnis wesentlicher Faktenchecker-Organisationen gibt es in https://sensiblochamaeleon.blogspot.com/2023/09/faktenchecks-wahrheitssuche-peer-review.html

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