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Prof. Dr. Michael Haller

Foto: Kreuzkam/HMS
Foto: Kreuzkam/HMS

Zur Flüchtlingsberichtserstattung in den deutschen Medien – ein Gespräch mit Prof. Dr. Michael Haller

Prof. Dr. Michael Haller leitet die Journalismusforschung an der Hamburg Media School und ist stellvertretender Direktor des Instituts für Praktische Journalismus- und Kommunikationsforschung in Leipzig.

4.10.2016

Sie arbeiten gerade an einer Studie im Auftrag der Otto Brenner Stiftung der IG Metall zur Flüchtlingsberichtserstattung in den deutschen Medien. Was war der Ansatz für die Studie? 

Wir haben im vergangenen Jahr beobachtet, dass die Skepsis in der Bevölkerung gegenüber den Informationsmedien und gegenüber dem politischen System rasant zunahm; demoskopische Erhebungen zeigten parallel dazu einen Rückgang des öffentlichen Vertrauens. Nun findet in unserer Mediengesellschaft die politische Meinungs- und Willensbildung praktisch nur vermittels der Medien statt. Deshalb wollen wir rekonstruieren, welches Meinungsklima von den Medienberichten in Bezug auf die Flüchtlingsthematik erzeugt wurde und ob der von den Medien orchestrierte Diskurs Raum für ein hinreichend breites Meinungsspektrum offen hielt.

Wie sind sie in der Studie vorgegangen? 

Methodisch gesehen haben wir Inhaltsanalysen der Berichterstattung vorgenommen und dazu die Leitmedien sowie rund hundert Regionalzeitungen herangezogen. Insgesamt werten wir derzeit mehr als 3.000 Medienberichte mit morphologischer Tiefenschärfe aus. Zudem haben wir die Art der Berichterstattung von annähernd 30.000 Berichten mit Hilfe datenbankbasierter Untersuchungen näher angeschaut, um den Verlauf des Diskurses genauer nachvollziehen zu können. Für das Jahr 2015 haben wir des Weiteren mehrere zentrale Ereignisthemen und Schlüsselbegriffe analysiert und die mediale Vermittlung dieser Themen nachgebildet. Eine wichtige Rolle spielte dabei der mediale Umgang mit dem Narrativ „Willkommenskultur“. Datenbankrecherchen zeigten, dass der Begriff bereits 2005 vom politischen System in den öffentlichen Diskurs eingebracht wurde und von den Medien während der folgenden zehn Jahre zu einer Art Grundrauschen verstärkt und verstetigt worden ist. 

Gibt es bereits erste Erkenntnisse aus der Studie?

Ich kann hier nur einige sehr vorläufige Eindrücke und Hypothesen nennen. So fiel mir auf, dass über die Medien eine in Bezug auf die Integrationskapazität der Gesellschaft überaus optimistische Grundstimmung aufgebaut wurde. Dabei behandelten die Medien diese Thematik erstaunlich abstrakt. Das Publikum erfuhr nur ausnahmsweise, welche Erfordernisse, welche Investitionen und welche Managementaufgaben konkret damit verbunden sind. Auch die Wertediskussion wurde immer wieder auf die abgehobene Bühne der Bundespolitik zurückgespielt und nicht heruntergebrochen auf die Vollzugsebene, also dorthin, wo die Menschen mit dem Thema lebenspraktisch zu tun bekamen. Mir fiel des Weiteren auf, dass die Tonalität in den Medien im Fortgang verschiedener unerwarteter Ereignisse plötzlich ins leicht Hysterische kippte – und sich vom Optimismus in den Skandalismus verwandelte. Ich finde es auffallend, wie lange die Journalisten gebraucht haben, ehe sie die Thematik auf der Sachebene und nicht immer weiter auf der emotionalen Ebene bearbeitet haben.

Was erwarten Sie von Ihrer Medienanalyse?

Vor allem hoffe ich, dass wir mit unseren Analysen einen Beitrag leisten können zur Aufklärung der Medienfunktionen bei derart konfliktreichen Großthemen wie in diesem Falle. Wir wollen auch Antworten finden auf die Frage, ob und wie die Informationsmedien mit moralisch heiklen Großthemen umgehen und ob sie noch in der Lage sind, ihre Rolle als kritische, die Politik kontrollierende Instanz wahrzunehmen. Dabei soll die Studie kein Medien- oder Journalismusbashing betreiben, sondern diskutieren, ob und wie gesellschaftliche Verständigung über die mit solchen Kontroversen verbundenen Werte praktisch möglich ist.

Mehr zum Thema: Von der Willkommenskultur zum Kontrollverlust – Welche Rolle Medien und Sprache in der Flüchtlingsdebatte spielen