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Prof. Dr. Dr. h.c. Ortwin Renn

Über die Ängste der Deutschen – ein Interview mit Prof. Dr. Dr. h.c. Ortwin Renn. 

Der Soziologe Prof. Dr. Dr. h.c. Ortwin Renn leitet das Zentrum für Interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung an der Universität Stuttgart und das Institute for Advanced Sustainability Studies in Potsdam. In seiner Forschung widmet er sich vor allem der Wahrnehmung von Risiken und Angst in der Gesellschaft.

23.8.2016

Wovor fürchtet sich die deutsche Bevölkerung?

Laut einer repräsentativen Umfrage der R+V Versicherungen zu den „Ängsten der Deutschen“ ist die Angst vor einem Terroranschlag mit 73% die Gefahr, die die deutsche Bevölkerung am meisten fürchtet. Die Angst wird sogar höher geschätzt, als alle anderen Gefahren, denen die deutsche Bevölkerung ausgesetzt ist. Die gefühlte Bedrohung durch einen Terroranschlag ist also sehr hoch. 

Warum sind so viele Menschen in der Bevölkerung verunsichert und haben Angst? 

Wir können natürlich nur das Risiko aus der Vergangenheit berechnen – nicht das für die Zukunft. Terroranschläge haben immer einen großen symbolischen Wert. Ein Terroropfer ist eben medial etwas ganz anderes, als wenn eine Person von einer Leiter fällt und stirbt. Grundsätzlich muss man sich aber vergegenwärtigen, dass in Deutschland pro Tag rund 40.000 öffentliche Veranstaltungen stattfinden. Selbst wenn hypothetisch – was natürlich völlig ausgeschlossen ist – jeden Tag davon eine von Terror betroffen wäre, blieben immer noch 39.999 Veranstaltungen pro Tag, deren Besuch gänzlich ungefährlich wäre. Hieran zeigt sich beispielsweise, dass hier die Angst weitgehend unbegründet ist. 

Was ist das Besondere am Terrorismus?

Was den modernen Terrorismus ausmacht ist, dass er immer willkürlich und unberechenbar auftritt. Das heißt: Terrorismus kann zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort ausbrechen. Das ist für Menschen – wie wir wissen – besonders angstauslösend. Und eben das zeigt sich auch in dem konkreten Verhalten der Bevölkerung: Nahezu die Hälfte der deutschen Bevölkerung in Deutschland sagt, dass sie ihr Verhalten ein Stück weit ändern wird. Einige vermeiden gezielt große Veranstaltungen, andere passen sogar ihre Urlaubspläne entsprechend an. In Regionen mit überwiegend muslimischer Bevölkerung geht die Zahl der Urlaubsreisen zurück. Wir sehen also, dass die empfundene Bedrohung nicht spurlos an der Bevölkerung vorbeigeht und die Angst vor dem Terror auch in unserem Verhalten sichtbar wird.

Wie kann die Wissenschaft da etwas entgegensetzen?

Die Menschen berücksichtigen bei ihren Entscheidungen Bauch und Kopf. Die Wissenschaft kann den Bauch schlecht bedienen, aber für den Kopf hat die Wissenschaft eine Aufklärungsfunktion. Die Wissenschaft kann und sollte sich daher stärker in Vermittlungen, Mediationen und vor allem in Begegnungen zwischen Flüchtlingen und Anwohnern einschalten. Denn in Deutschland ist bei vielen Menschen auch Unbehagen im Zusammenhang mit Flüchtlingen eingetreten. Das gründet auf einem typischen Muster: nämlich der Fremdheit. Bei einzeln auftretenden Straftaten, die natürlich bei der Zahl der Flüchtlinge unvermeidbar ist, ist dies eine rückwirkende Bestätigung für alle, die bereits von Vornherein Misstrauen gegenüber Flüchtlingen gehabt haben. Wissenschaft muss daher auch die Politik in der Kommunikation unterstützen und einen Beitrag zur allgemeinen Aufklärung der Bevölkerung leisten. 

Mehr zum Thema: Opfer oder Täter? Was Flüchtlinge mit Kriminalität und Terror in Deutschland zu tun haben