Prof. Dr. Gerhard Vowe

Wie Medien über die Flüchtlingskrise berichten – ein Gespräch mit Prof. Dr. Gerhard Vowe
Prof. Dr. Gerhard Vowe ist Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. In seiner Forschung beschäftigt er sich insbesondere mit Politischer Kommunikation in der Online-Welt und Medienpolitik.
4.10.2016
Welche Funktion haben die Medien in der Berichterstattung über die Flüchtlingsmigration?
In der Betrachtung der Medienwirkungskette kann man einzelne Teilfunktionen unterscheiden. Bezogen auf die Flüchtlingsmigration im letzten Sommer sehe ich bei dem Agenda-Setting die Rolle der Medien eher schwach ausgeprägt. Denn die Flüchtlingsmigration war ein so dominantes und für jedermann sichtbares Problem, dass es keine gezielte Themensetzung durch die Medien brauchte. Eine viel stärkere Funktion hatten die Medien hingegen bei dem sogenannten Framing – also dem Vermitteln von Deutungsmustern. Bis zum Oktober 2015 wurde die Flüchtlingsmigration von den Medien recht einheitlich als humanitäre Aufgabe vermittelt, vielfach auch als Chance. Mit der Zeit wurde das mediale Deutungsmuster eher skeptisch – „Ob das alles zu schaffen ist?!“ Dritte Teilwirkung: Die Medien signalisieren, wer die Kompetenz hat, ein Problem zu lösen, also das sogenannte Priming: Hier wird also die Einschätzung von Relevanz eines Themas mit der Einschätzung der Kompetenz einer Partei verknüpft. In der Berichterstattung über die sogenannte Flüchtlingskrise sehen wir zunehmend, dass Kontrollverlust und Staatsversagen signalisiert wurde. Durch die Medien wird also eine Art negatives Priming vermittelt: Keiner hat die Kompetenz, das Problem zu lösen. Das führte zu Proteststimmen für die AfD. Und schließlich kann man noch ein Nudging erkennen – das Anstupsen des Lesers oder Zuschauers mit Beispielen zur Hilfe oder zur Beteiligung. Das war zur Beginn der Flüchtlingskrise recht stark ausgeprägt, wenn man sich mal die Listen von Initiativen zur Flüchtlingshilfe und das Einblenden von Spendenkonten in den Nachrichtensendungen vor Augen ruft.
Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Medienberichterstattung und der Hilfsbereitschaft der Bevölkerung?
Die Hilfsbereitschaft ging nicht von den Medien selber aus, aber sie wurde dadurch schon enorm verstärkt. Dies insbesondere, weil einzelne Beispiele der Mithilfe und Unterstützung positiv herausgehoben wurden und die Medien eben auch Optionen aufgezeigt haben, wie jeder einzelne sich beteiligen kann. Dazu wurde zu Beginn auch mit vielen mitleidsfördernden Bildern gearbeitet. Auch das trug natürlich zu dem migrationsfreundlichen Klima in der Bevölkerung bei. Aber auch die sozialen Medien hatten entscheidenden Anteil an der großen Hilfsbereitschaft. Denn durch die Kommunikation über die sozialen Medien haben sich viele Ehrenamtliche vernetzten können und persönliche Eindrücke wurden geteilt.
Was hat sich durch die sozialen Medien verändert?
Die sogenannte Flüchtlingskrise hat allen deutlich vor Augen geführt, welche Bedeutung die sozialen Medien inzwischen für die private und die politische Kommunikation haben. In der gesamten Berichterstattung über Flüchtlinge fand ein nennenswerter Teil der Bevölkerung – und nicht nur die drastischen Gegner der Migration – ihre Meinung nicht mehr in den etablierten Medien abgebildet. Das wurde als eine Schweigespirale wahrgenommen. Und die konnte mit den sozialen Medien durchbrochen werden, indem Personen sich in den sozialen Medien ausgetauscht haben. Wir werden durch die sozialen Medien also bei einem politischen Problem zum ersten Mal so richtig mit dem Stammtisch konfrontiert. Denn das, was früher flüchtig interpersonal geäußert und nie aufgezeichnet wurde, finden wir jetzt verschriftlicht in den sozialen Medien.
Welche Auswirkungen haben die sozialen Medien auf die etablierten Medien?
Die sozialen Medien geben inzwischen das Tempo der Berichterstattung vor. Inzwischen gibt es keinen Moment, der unbeobachtet bleibt und daher kann nahezu jedes Ereignis innerhalb von Sekunden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Das verändert natürlich auch die Arbeit der etablierten Medien. Es wird alles schneller, zugespitzter, vorläufiger und widersprüchlicher. Gerade bei einer komplexen Thematik wie bei der Flüchtlingsmigration ist das eine enorme Herausforderung für die Qualitätsmedien, in diesem vielstimmigen Umfeld die Fakten und Positionen zu strukturieren und einzuordnen.
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