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Flucht und Migration in der Glaskugel der Wissenschaft – Was wissen wir heute über Fluchtbewegungen von morgen?

25.10.2016

Eins ist sicher: Auch in Zukunft werden Menschen ihre Heimatländern verlassen müssen.
Eins ist sicher: Auch in Zukunft werden Menschen ihre Heimatländern verlassen müssen.
Eins ist sicher: Auch in Zukunft wird es Menschen geben, die ihre Heimatländer verlassen müssen. Foto: Thaddaeus Lim, CC0

 

Wissen wir überhaupt etwas über die Fluchtbewegungen von morgen? Im Rückblick scheinen die rund eine Million Geflüchteten in 2015 für viele in Deutschland eine große Überraschung gewesen zu sein. Bis Ende September 2016 kamen laut Innenminister Thomas de Maizière weitere 213.000 Menschen nach Deutschland, in den Medien rechnete man Anfang des Jahres noch mit einer weiteren Million Geflüchteten in Deutschland.  Lassen sich Flucht und Migration vorhersehen, in welchen Regionen werden diese eine Rolle spielen und wie werden sich die Zahlen für Deutschland in Zukunft entwickeln? Gemeinsam mit Migrationsexperten wollen wir einen Ausblick geben.

„Wir dürfen nicht vergessen, dass die allermeisten Flüchtlinge weltweit nicht von den Industriestaaten aufgenommen werden, sondern als Binnenflüchtlinge in ihren Ländern bleiben oder in den Nachbarstaaten des Globalen Südens leben.“ (Dr. Christiane Fröhlich)

Nach den jüngsten Erkenntnissen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) waren Ende 2015 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht. Das ist die höchste je festgestellte Zahl und allein im Vergleich zum Vorjahr ist das eine Steigerung von 6 Millionen Menschen. Auch Deutschland wurde so deutlich wie schon lange nicht mehr von Fluchtbewegungen tangiert. Dabei bildet Europa mit insgesamt 6,9 Millionen Schutzsuchenden sogar das Schlusslicht in der Auflistung nach Regionen der Welt. Die meisten Schutzsuchenden befinden sich im Nahen Osten und Nordafrika (19,9 Millionen) und in Sub-Sahara Afrika (18,4 Millionen).

Auch wenn uns die Thematik also seit dem letzten Jahr in Deutschland stark beschäftigt, müssen die Zahlen, wie die Friedensforscherin Dr. Christiane Fröhlich vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg betont, in den Relationen gesehen werden: „Wir dürfen nicht vergessen, dass die allermeisten Flüchtlinge weltweit nicht von den Industriestaaten aufgenommen werden, sondern als Binnenflüchtlinge in ihren Ländern bleiben oder in den Nachbarstaaten des Globalen Südens leben.“

Fluchtbewegungen aus den Staaten mit den meisten Flüchtlingen (Angaben in Millionen Flüchtlingen). Quelle: UNHCR Global Trends 2015
Fluchtbewegungen aus den Staaten mit den meisten Flüchtllingen (Angaben in Millionen Flüchtlingen). Quelle: UNHCR Global Trends 2015
Fluchtbewegungen aus den Staaten mit den meisten Flüchtlingen (Angaben in Millionen Flüchtlingen). Quelle: UNHCR Global Trends 2015

 

„In Europa ist die Thematik über Jahre hinweg schlicht nicht beachtet worden” (Dr. Laurence Marfaing)”.

Ebenso wichtig für die Einordnung der aktuellen Zahlen in Deutschland und Europa ist auch deren Entwicklung. Denn das Problem ist keineswegs neu. Schon in den Jahren zuvor ist die Zahl der in Europa Schutzsuchenden stetig gewachsen. Die Historikerin Dr. Laurence Marfaing vom GIGA Institut für Afrika-Studien macht ebenfalls deutlich, dass „in Europa die Thematik über Jahre hinweg schlicht nicht beachtet worden ist”. Selbst, wie sie weiter ausführt, „die Situationen in Lampedusa, Ceuta und Melilla in den letzten Jahren haben nicht dazu geführt, dass die Thematik in Europa diskutiert wurde.“  Und man dann auch gesehen hätte, dass die Ursachen viel tiefer verankert sind.

Es wäre also sinnvoll die Ursachen von Flucht in einem globalen Kontext zu analysieren und zu diskutieren. Denn der Grund für die Zunahme an unfreiwilliger (und irregulärer) Migration weltweit ist auch, so Christiane Fröhlich, „dass das massive Ungleichgewicht zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden für menschliche Mobilität nicht in der Genfer Flüchtlingskonvention abgebildet wird“. Auch Laurence Marfaing sieht in dem Weltwirtschaftssystem die Ursache für den großen Flucht- und Migrationsdruck in Afrika: „Die aktuelle Politik der Europäischen Union fördert die unfreiwillige Migration, weil Arbeitsplätze und Märkte zerstört werden.“ Der Appell von Christiane Fröhlich ist daher eindeutig: „Eine Diskussion über diesen Zusammenhang – wenn diese auch noch so unbequem für uns ist – ist dringend angezeigt.“

„Nur ein Bruchteil der Flucht- und Migrationsbewegungen in Afrika führen Richtung Europa.“ (Dr. Laurence Marfaing)

Bei Betrachtung der Zahl der Kriege und Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent und der Zahl der Flüchtlingslager in Afrika fällt auf, wie dramatisch die Situation außerhalb Europas ist. In Dadaab beispielsweise – dem wohl größten Flüchtlingslager der Welt in Kenia nahe der Grenze zu Somalia – hielten sich in den letzten Jahren bis zu 500.000 Personen gleichzeitig auf. Hier, wie auch in vielen anderen Regionen in Afrika, so Laurence Marfaing, „existieren Flüchtlingslager seit über 20 Jahren und die Menschen, die dort leben, befinden sich in einer sehr prekären Situation.“ Obwohl der afrikanische Kontinent 26 Prozent der weltweiten Flüchtlingsbevölkerung aufweist, werden dennoch nur sehr wenige als Flüchtlinge nach der Definition der Genfer Flüchtlingskonvention in Europa anerkannt und bekommen dadurch die Möglichkeit eines berechtigten Schutzes in Europa. Ohnehin sind es „nur ein Bruchteil der Flucht- und Migrationsbewegungen, die Richtung Europa führen“, so Laurence Marfaing. Denn ein Großteil der Bewegungen bleibt auf dem afrikanischen Kontinent. Auch wenn manche das aus der deutschen Perspektive anders wahrnehmen, ist, wie Christiane Fröhlich sagt, „Europa also keineswegs das Zentrum globaler Fluchtbewegungen.“

„Hochrechnungen sind immer nur eine Version einer möglichen Zukunft.“ (Christiane Fröhlich)

Es gibt eine Reihe von Hochrechnungen, wie sich die Flüchtlingsbewegungen nach Deutschland in den nächsten Jahren entwickeln können. Auch Naturkatastrophen und Folgen von Klimaveränderungen können natürlich Flucht auslösen. Auch das muss dementsprechend bei Hochrechnungen mit einbezogen werden. Hochrechnungen sind, wie Christiane Fröhlich sagt, „notwendig, wenn es darum geht, im Politikbetrieb Planungen voranzutreiben.“ Entscheidend für die Hochrechnungen ist aber immer die Wahl der Variablen – je nachdem, was berücksichtigt wird, kann die Zahl deutlich variieren. Und die Hochrechnungen sind auch nicht unproblematisch, wenn mit ihnen unmittelbare politische Entscheidung legitimiert werden (sollen), denn sie sind „immer nur eine Version einer möglichen Zukunft“ (Christiane Fröhlich). Schließlich ist es „schwer vorherzusehen, in welcher Region der Welt sich die Situation drastisch verändern oder verschlechtern wird“, so Laurence Marfaing.

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