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Nicht erreichte Zielgruppen in der Wissenschaftskommunikation

Auswahl und Definition von drei exemplarischen Zielgruppen

Überblick

Die Auswahl von drei beispielhaften Zielgruppen, die bislang von der Wissenschaftskommunikation wenig oder nicht erreicht werden, baut auf bestehenden Erkenntnissen auf. Im Rahmen eines Literaturreviews wurden zunächst nicht erreichte Gruppen recherchiert und dahinterstehende Exklusionsfaktoren abgeleitet und vom wissenschaftlichen Beirat diskutiert. Anhand dieser konkreten Faktoren wählte das Projektteam anschließend drei beispielhafte Zielgruppen aus, mit denen im weiteren Verlauf zusammengearbeitet werden sollte.  

Auswahl der Zielgruppen

Literaturreview

Nicht nur die Wissenschaftskommunikation, sondern auch andere Bereiche, die den Auftrag haben, Bürgerinnen und Bürger in der Breite anzusprechen, stehen vor dem Problem, dass sie bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht (mehr) erreichen. Daher hat das Projektteam im Literaturreview neben der Wissenschaftskommunikationsforschung auch gezielt weitere Bereiche wie Gesundheitskommunikation bzw. Public Health, Politische Bildung, Partizipationsforschung und allgemeine Bildungs- und Weiterbildungsforschung berücksichtigt. Hier werden zahlreiche unterrepräsentierte und nicht erreichte Gruppen genannt, am häufigsten sozioökonomisch Benachteiligte, Menschen mit Migrationshintergrund, ethnische Minderheiten und sogenannte bildungsferne Milieus. Die Gruppen selbst können dabei allerdings sehr heterogen ausfallen, sodass oft Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und Lebenswelten zu ein und derselben Gruppe gezählt werden. So umfasst etwa die Gruppe der „Migrantinnen und Migranten der ersten Generation“ Menschen mit ganz unterschiedlichen Bildungsabschlüssen und Sprachkenntnissen, einzig verbunden durch das Merkmal, zugewandert zu sein. Es erscheint daher sinnvoll, möglichst viele Exklusionsfaktoren systematisch zu erfassen und dann zu priorisieren.

Einen Überblick über die Ergebnisse des Literaturreviews zeigt das Factsheet.

Exklusionsfaktoren

Eine umfassende Übersicht aller Exklusionsfaktoren, insbesondere für das Feld der Wissenschaftskommunikation, fehlte bislang. Deshalb wurden die 31 identifizierten Exklusionsfaktoren zur Systematisierung in ein Drei-Ebenen-Modell, aufbauend auf dem Konzept von Gerhild Brüning (2002) aus der Weiterbildungsforschung, eingeordnet.

Um die große Anzahl der in der Literatur genannten Faktoren, häufig nur für sehr spezifische Kontexte relevant, überschaubar zu halten, hat das Projektteam nur solche berücksichtigt, die mehrfach in unterschiedlichen Quellen benannt wurden.

Auswahl der Zielgruppen

Im Rahmen der ersten Sitzung diskutierte der wissenschaftliche Beirat zunächst die Auswahl und Zuordnung der Exklusionsfaktoren. Anschließend gewichtete er die Faktoren anhand bestimmter Kriterien: die gesellschaftliche und wissenschaftliche Relevanz der Exklusionsfaktoren, ihre Aktualität, die Größe der zugehörigen Zielgruppe, bestehende Forschungsinteressen und Praxisprojekte sowie Möglichkeiten des Zugangs. So konnte eine Rangliste von Exklusionsfaktoren aufgestellt werden, die im weiteren Auswahlprozess besonders berücksichtigt werden sollten:

  1. Einstellungen/Werte
  2. fehlende Vertrautheit/Habitus/“Science Capital“
  3. sozio-ökonomischer Status
  4. kulturelle Barrieren (potentielle Überschneidung mit Sozio-ökonomischen Status sowie ethnischer Herkunft)
  5. Alltags-/Lebensweltbezug
  6. regionale Zugehörigkeit (Stadt/Land)
  7. Bildung
  8. Desinteresse
  9. Geschlecht/Gender
  10. Misstrauen in Wissenschaft

 

Mithilfe dieser gewichteten Exklusionsfaktoren wählte das Projektteam drei exemplarische Zielgruppen aus, die von der Wissenschaftskommunikation bislang nicht erreicht werden und mit denen im Laufe des Projekts zusammengearbeitet werden soll.

 

Grafik: Exklusionsfaktoren als 3-Ebenen-Modell.

Zielgruppe 1: Sozial Benachteiligte in marginalisierten Stadtteilen

Die Zielgruppe der sozial Benachteiligten in marginalisierten Stadtteilen ist die heterogenste von allen dreien. Denn die Marginalisierung solcher Stadtteile kann durch sehr unterschiedliche Faktoren entstehen, entweder durch schlechtere Infrastruktur und Raumnutzung oder durch die sozial schwächere Lage ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Da Angebote der Wissenschaftskommunikation aber meistens im Stadtinneren stattfinden, werden Menschen marginalisierter Stadtteile von diesen kaum erreicht 1. Außerdem zeigen Studien immer wieder, dass eine niedrigere Bildung und ein geringeres Einkommen der Menschen den Zugang zu wissenschaftlichen Themen erschweren2. Daher kann davon ausgegangen werden, dass Bewohnerinnen und Bewohner marginalisierter Stadtteile bislang kaum von Angeboten der Wissenschaftskommunikation erreicht werden – insbesondere, wenn sie sozial benachteiligt sind.

Eine solche Benachteiligung von Menschen liegt zum Beispiel vor, wenn sie mit gesellschaftlich wertvollen „Gütern“ wie bspw. hohen Einkommen und Bildungsabschlüssen, aber auch guten Lebens- und Arbeitsbedingungen unterdurchschnittlich ausgestattet sind. Ist die Verteilung dieser „Güter“ strukturell bedingt und findet sie regelmäßig zu Ungunsten bestimmter Bevölkerungsgruppen statt, spricht man von sozialer Benachteiligung bzw. Ungleichheit3.

In Berlin gibt es viele solcher marginalisierten Stadtteile. Besonders Randbezirke wie Marzahn, Reinickendorf oder Spandau weisen oft eine starke soziale Benachteiligung der dort lebenden Bürgerinnen und Bürger auf.4 Exemplarisch konzentriert sich das Projekt „Wissenschaft für alle“ auf den Bezirk Spandau, konkreter auf das Falkenhagener Feld. Hier lag 2017 die Arbeitslosenquote bei über 8% (Berlin gesamt: 5%) und 42% der Bewohner*innen bezogen Transferleistungen (Berlin gesamt: 30%).

1 vgl. z. B. Dawson 2014: Reframing Social Exclusion from Science Communication
2 vgl. z. B. Powell et al. 2011: Imagining Ordinary Citizens?
3 vgl. z. B. Stefan Hradil, 2001: Soziale Ungleichheit in Deutschland
4 vgl. z. B. Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales, 2013: Handlungsorientierter Sozialstrukturatlas Berlin 2013)

Zielgruppe 2: Berufsschülerinnen und Berufsschüler

Berufsschülerinnen und Berufsschüler sind als eigene Zielgruppe deshalb interessant, weil sie bisher vernachlässigt wurden und gewissermaßen zwischen den Stühlen sitzen. Viele spezielle Wissenschaftskommunikationsangebote richten sich entweder an Kinder und Jugendliche, wofür Berufsschülerinnen und -schüler schon zu alt sind, oder bestimmte Gruppen von älteren Erwachsenen, wofür sie wiederum zu jung sind.

2017/18 gab es fast 2,5 Millionen Schülerinnen und Schüler an Beruflichen Schulen, wovon etwa 1,4 Millionen Teilzeit-Berufsschulen besuchten.1 Dort gehen sie neben ihrer Arbeit im Betrieb entweder zwei Tage pro Woche oder blockweise zur Berufsschule. Erkenntnisse aus anderen Ländern zur Erreichbarkeit von Personen dieser Altersgruppe lassen sich nur sehr bedingt übertragen, da dieses duale Bildungssystem eine Besonderheit des deutschsprachigen Raumes ist.

Berufsschülerinnen und Berufsschüler sind durch Arbeit und Schule gleich doppelt belastet. Dadurch haben sie weniger Zeit für andere Aktivitäten. Außerdem wird die duale Berufsausbildung vor allem von Personen wahrgenommen, für die ein Studium – aus welchen Gründen auch immer – meist nicht in Frage kommt. Gleichzeitig haben sie je nach Ausbildungszweig große Berührungspunkte zu Technik und Wissenschaft. Es ist eine interessante Frage, ob sich diese beruflich bedingte Nähe auch in ein Interesse an Wissenschaft (-skommunikation) übertragen lässt.

Um diese Frage exemplarisch beleuchten zu können, entschied sich das Projektteam für für eine Zusammenarbeit mit der Heinrich-Meidinger-Schule in Karlsruhe. Die 1909 gegründete Berufsschule ist heute Bundesfachschule für Sanitär- und Heizungstechnik und bildet unter anderem Anlagenmechaniker/in für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik aus. Angliedert sind zudem eine Techniker- und Meisterschule sowie diverse Weiterbildungsangebote. Gemeinsam mit Stakeholdern – in diesem Fall Lehrkräfte – sowie mit Schülerinnen und Schülern selbst werden Formate der Wissenschaftskommunikation entworfen und evaluiert, die Berufsschülerinnen und Berufschüler besser erreichen sollen.

1 vgl. Statistisches Bundesamt – Allgemeinbildende und berufliche Schulen, Schüler/innen nach Schularten. Zugriff: 08.10.2018

Zielgruppe 3: Muslimische Jugendliche mit Migrationshintergrund

Mögliche Gründe, warum die bisherige Wissenschaftskommunikation muslimische Jugendliche mit Migrationshintergrund noch nicht erreicht, sind vielfältig. Zum einen kann eine religiöse Weltanschauung – unabhängig von der Glaubensrichtung – den Zugang zu bestimmten wissenschaftlichen Themen, wie etwa Evolution oder Klimawandel, erschweren. So gibt es Studien, die nahelegen, dass ein starker Glaube sowohl bei christlichen als auch bei muslimischen Jugendlichen das Interesse an Themen wie Biologie senken kann.1

Zum anderen machen insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund, deren Herkunftsländer muslimisch geprägt sind, häufig Diskriminierungserfahrungen. Insgesamt fühlt sich fast jede/r fünfte Muslima oder Muslim aufgrund seiner Religion oder religiösen Überzeugung diskriminiert2. Diese Diskriminierungserfahrung kann dazu führen, dass sich Muslimas oder Muslime von Veranstaltungen der Wissenschaftskommunikation – die zudem oft eurozentrisch gestaltet sind – nicht angesprochen oder sich auf diesen nicht willkommen fühlen. Religion ist für diese Gruppe somit oftmals ein relevanter Faktor, der auf die eine oder andere Weise eine Erreichbarkeit erschweren kann.

Um näher zu beleuchten, welche dieser verschiedenen Faktoren für muslimische Jugendliche mit Migrationshintergrund tatsächlich exkludierend wirken, wurde im Rahmen des Projekts mit Initiativen wie HEROES oder i,Slam zusammengearbeitet, aber auch andere Stakeholder aus diesem Bereich wurden miteinbezogen.

1 vgl. Hagay et al. (2013): The generalizability of students’ interests in biology across gender, country and religion. Research in Science Education, 43(3), 895-919

2 vgl. Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2018): Zweite Erhebung der Europäischen Union zu Minderheiten und Diskriminierung Muslimas und Muslime – ausgewählte Ergebnisse, 29, abrufbar unter: https://fra.europa.eu/de/publication/2017/zweite-erhebung-der-europaischen-union-zu-minderheiten-und-diskriminierung-roma

Gemeinsam mit Menschen, die zu diesen Gruppen zählen, entwickelt das Projektteam von „Wissenschaft für alle“ neue Formate, die die Besonderheiten dieser Zielgruppen berücksichtigt, und setzt diese anschließend im Laufe des Jahres 2019 pilothaft um.