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Man wird ja wohl noch träumen dürfen

20. April 2022

  • Erstellt von Michael Siegel
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  • WiD-Labor
Rasender Stillstand Fortsetzung der Reihe: Aufbruch: Updates für eine Zukunftsfähige Gesellschaft, Foto: Bucerius Array

Rasender Stillstand Fortsetzung der Reihe: Aufbruch: Updates für eine Zukunftsfähige Gesellschaft, Illustration: Bucerius Lab

Vom 23. März bis zum 13. April fand die dritte Staffel der digitalen Lunchtalk-Reihe „Rasender Stillstand“ statt, die das Projekt Wissenschaft kontrovers gemeinsam mit dem Bucerius Lab der ZEIT-Stiftung und Holtzbrinck Berlin umsetzte. Das ursprüngliche Ziel der Reihe war es, typische Corona- und Lockdown-Phänomene wie Spaziergänge, Homeoffice oder Online-Shopping wissenschaftlich unter die Lupe zu nehmen. Auch, wenn ein Ende der Pandemie noch immer nicht absehbar ist, wollten wir in der dritten Staffel, davon abweichend, einen Blick nach vorne wagen. Unter dem Motto „Aufbruch“ sollten verschiedene Phänomene der Digitalisierung in den Fokus rücken.

Der Wunsch, positiv und zukunftsorientiert zu diskutieren, ist nicht neu – er wird in Bezug auf mediale Berichterstattung zum Beispiel schon länger unter dem Schlagwort „konstruktiver Journalismus“ verhandelt. Dennoch stellte er uns vor eine Herausforderung: Wissenschaft ist kein Wunschkonzert, und Forschende sind nun mal nicht zum Träumen da. Wie können wir sachhaltig über Utopien sprechen, ohne unseren Podiumsgästen zu stark zuzumuten, ihr eigentliches Metier – den Boden der Tatsachen – zu verlassen? Diese Überlegung – und nicht zuletzt auch das Anliegen, einen Akzent inmitten der strukturell sehr ähnlichen Zoom-Talks zu setzen – gaben Anlass zu einem kleinen Experiment. Das Team von „Rasender Stillstand“ bat die Science-Fiction-Autorin Theresa Hannig, für jede Session ein thematisch passendes Zukunftsszenario zu verfassen. Als ehemalige Softwareentwicklerin, die sich nun schwerpunktmäßig mit Utopien beschäftigt, war sie für diese Aufgabe prädestiniert. Die etwa fünf bis zehn minütigen Impulse wurden im Vorfeld von der Autorin eingesprochen und zu Beginn der Veranstaltungen eingespielt.

Konkret sah das Szenario in der Session zum Thema „Digitale Bildung“ so aus: Eine Schülerin wird von ihrer Oma zur Schule gebracht. Die Oma wundert sich über den Roboter-Vogel auf der Schulter ihrer Enkelin, der sich fortwährend mit ihr unterhält, und diskutiert im Anschluss daran mit der Lehrerin über Fächergrenzen und die Kompetenzen der Lehrenden. Beim Papagei handelt es sich um eine KI, die die Schülerin auf ihrem kompletten, individuellen und selbstbestimmten Bildungsweg begleitet.

Natürlich wurde im Anschluss nicht direkt darüber diskutiert, ob Lernassistenzen die Form eines Papageis haben sollten. Vielmehr lieferten die Geschichten Schlagworte, wie Individualisierung, Personalisierung und Nutzerorientierung, für die Diskussion. Und auch der Papagei spielte zumindest indirekt dann doch eine Rolle, denn im Gespräch wurde klar: Es kommt nicht auf das Endgerät, sondern auf seine Funktion an. 

Abschließend sagen, ob die Diskussion ohne literarischen Impuls ähnlich verlaufen wäre, können wir zwar nicht. Doch mit der insgesamt erzeugten „Aufbruchstimmung“ waren wir sehr zufrieden. Ähnliches galt für die weiteren Sessions. So wurde das Reizwort „Datennutzung“ nicht als bürokratisches Ärgernis betrachtet oder nur mit Datenklau verbunden. Vielmehr wurde Datenschutz als Wert begriffen und die Diskussion zeigte Best-Practice-Beispiele für die Nutzung von Daten jenseits kommerzieller Zwecke auf. In der Session „Stadt und Land“ schließlich stimmte das Podium nicht mit dem fiktionalen Impuls überein, doch wurde das Erzählen selbst zum Gegenstand der Diskussion: Die Gesprächsteilnehmer*innen forderten eine angemessene Repräsentation positiver, Mut machender Geschichten vom Land statt großstädtisch geprägter Perspektiven.

Letztlich lebten die Diskussionen, die trotz allem einen Großteil der Veranstaltungen ausmachten, natürlich insbesondere auch von tollen Gästen und Moderator*innen aus dem ZEIT-Universum. Dennoch glauben wir, dass fiktionale Impulse im Sinne des Oberthemas „Aufbruch“ einen positiven Gesprächsverlauf zumindest begünstigen können. So bildeten die Impulse einen gemeinsamen Ausgangspunkt für die Speaker*innen, der womöglich helfen konnte, ein echtes Gespräch zu erzeugen – und nicht nur drei parallel verlaufende Interviews. Da der Impuls von einer dritten (bzw. vierten) Person kam, wurden keine Asymmetrien auf dem virtuellen Podium erzeugt. Durch ihren fiktionalen Charakter entlasteten die Impulse das Podium davon, selbst mit steilen Thesen voranpreschen zu müssen, und waren gleichzeitig als Bezugsrahmen nicht zu streng: Es handelte sich nicht um Behauptungen, an denen sich alle Diskussionsteilnehmer*innen abarbeiten mussten, sondern um unverbindliche Gedankenexperimente, auf die (positiv oder negativ) Bezug genommen werden konnte. 

Für das Publikum boten die Impulse zudem einen kurzweiligen, plastischen Einstieg in die Diskussion, der gut zum Lunchtalk-Format und zum Setting der Veranstaltungsreihe zwischen Wissenschaft und Kultur passte. All das kann auch auf anderem Wege gelingen – und Science Fiction ist mit Sicherheit keine Garantie für eine gute Diskussion. Doch uns hat das Experiment sehr viel Spaß gemacht – und wir blicken mit Aufbruchstimmung auf Diskussionsveranstaltungen in der Zukunft und über die Zukunft.

Natürlich profitierte die Reihe zu jeder Zeit, wie ebenfalls deutlich geworden sein sollte, vor allem von kreativen und experimentierfreudigen Kooperationen an der Schnittstelle von Wissenschaft, Kultur und Journalismus – in diesem Sinne ein herzliches Dankeschön an das Bucerius Lab der ZEIT-Stiftung und Holtzbrinck Berlin!

Alle Folgen können hier angesehen werden: https://buceriuslab.de/2021/02/10/rasender-stillstand-2/


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