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Prof. Dr. Jochen Oltmer

Warum Flüchtlingsforschung so schwierig ist – ein Gespräch mit Prof. Dr. Jochen Oltmer. 

Jochen Oltmer ist Professor für Neueste Geschichte der Migration am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Er ist zudem Mitglied des Organisationskreises des Netzwerks Flüchtlingsforschung. 

Bereits für den Beitrag „Integration – Das Zauberwort aus Politik und Gesellschaft?“ stand uns Jochen Oltmer Rede und Antwort.

13.9.2016

Warum hat sich die Wissenschaft noch nicht intensiver mit der Frage der Einstellungen und Erwartungen der Flüchtlinge in Deutschland beschäftigt?

Hier muss auf verschiedene Aspekte eingegangen werden: Untersuchungen zu Einstellungen und Erwartungen von Flüchtlingen in Deutschland sind aufwändige Unterfangen, die sich nicht aus dem Stand heraus sachgerecht durchführen lassen. In der Regel müssen dafür zunächst Mittel beantragt werden, die Befragungen selbst sind zeitaufwändig (nicht zuletzt hinsichtlich des Vorhaltens nötiger Sprachkenntnisse), die Auswertung und Aufbereitung ebenfalls. Hinzu kommt: Eine Flüchtlingsforschung, die auf Kompetenzen und Kenntnisse durch die Beschäftigung mit der Thematik über Jahre aufbauen könnte, ist in der Bundesrepublik Deutschland bislang sehr schwach ausgebaut. In gewisser Weise steht sie erst am Anfang und ist momentan durch vielerlei Fragen und Herausforderungen erheblich in Anspruch genommen.

Könnte die wissenschaftliche Forschung dazu einen Erkenntnisgewinn liefern und wofür wäre der Erkenntnisgewinn wichtig? (Integration, Arbeitsmarkt, ...)

Skepsis ist durchaus angebracht: Die Untersuchung von Einstellungen und Erwartungen ist auf längerfristige und lange Perspektiven angewiesen. Erwartungen reagieren auf Erfahrungen, individuelle Einstellungen sind im Kontext von Migration abhängig von der Frage, ob sich vorgestellte Chancen umsetzen lassen. Aber wie und warum? Von zentraler Bedeutung ist es also zu verstehen, aus welchen Gründen es in welchen Konstellationen bei wem zu einem Wandel von Einstellungen kommt. Bislang ist wissenschaftlich nur bedingt geklärt, in welchem Maße Einstellungen und Werte tatsächlich das konkrete Handeln von Menschen beeinflussen. Wir sehen, dass Einstellungen und Erwartungen permanent neu ausgehandelt werden, Werte in spezifischen Zusammenhängen aktiviert werden – oder eben auch nicht. Das heißt also: Zu glauben, die im Rahmen einer Befragung ermittelten Einstellungen könnten mehr oder minder unmittelbar für die Entwicklung von Konzepten zur Arbeitsförderung eingesetzt werden, geht fehlt. Dafür sind die Hintergründe, die Menschen zu Handlungen bewegen, zu komplex. 

Wie kann wissenschaftlich diese Wissenslücke gefüllt werden, bzw. welche Annahmen hat man bzgl. der Einstellungen und Erwartungen der Flüchtlinge?

Ein wissenschaftliches Programm, das Aufschluss über Einstellungen geben soll, müsste erstens längerfristig angelegt sein, um den Wandel von Einstellungen aufzeigen zu können. Darüber hinaus müsste es in der Lage sein, die Dynamik der dauernden Aushandlung von Einstellungen und Werten erklären zu können. Einstellungen und Werte sind eine Frage der Interaktion und eine Frage von Relationen: Welche individuellen, kollektiven oder institutionellen Akteure beeinflussen in welcher Form warum Einstellungen und Werte?

Welche anderen Fragen in der Flüchtlingsforschung sind bislang ebenfalls weitestgehend unerforscht? Woran liegt das und was braucht es, damit es sich ändert?

Ich sehe faktisch keine Aspekte, zu denen wir einen akzeptablen Forschungsstand hätten. Nötig ist zunächst eine enge Vernetzung der Forscherinnen und Forscher, die sich mit Flüchtlingsfragen auseinandersetzen, bislang wird vornehmlich nebeneinander, nicht aber miteinander bzw. in Kenntnis voneinander und Bezugnahme aufeinander gearbeitet. Dann wäre es wichtig, zu einer stärkeren Etablierung zu kommen: In Deutschland gibt es weder ein Institut zur Flüchtlingsforschung, noch eine Professur, eine Förderlinie, eine wissenschaftliche Zeitschrift oder eine Schriftenreihe.

Mehr zum Thema: Typisch Flüchtling ist … – Was wissen wir über Flüchtlinge in Deutschland?