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Machen Navigationssysteme „dümmer”?

16. November 2022

  • E Technik
  • C Geistes- und Sozialwissenschaften
Navigationsapp auf dem Handy Array

Foto: Pixabay/Pexels

Machen Navigationssysteme „dümmer”?

Navigationssysteme helfen den Menschen, den Weg von A nach B zu finden. Doch was passiert, wenn kein Orientierungshelfer mehr zur Verfügung steht? Kann der Mensch den Weg von B nach A auch ohne Assistenz zurückfinden? Oder haben wir uns beim digitalen Kartenlesen verirrt?  

In einer im Jahr 2006 veröffentlichten Studie wurde genau das festgestellt: Benutzer*innen von Navigationssystemen konnten ohne das Assistenzsystem nicht mehr nachvollziehen, wie sie von ihrem Ausgangspunkt zu ihrem Zielort gelaufen waren. Woran liegt das? Helfen Navigationssysteme bei der Orientierung oder machen sie „dümmer”, sprich, orientierungslos? 

Orientierung: Die Kognitive Kartenführung des Menschen 

Der Begriff „Orientierung” geht auf das französische Wort „orienter” zurück und bedeutet so viel wie „Richtung, wo die Sonne aufgeht”. Unter räumlicher Orientierung versteht man die Fähigkeit, den Ausgangspunkt eines Weges nach mehrfachem Abbiegen und nach Richtungswechseln stets lokalisieren zu können. Dafür muss das Individuum die Position des eigenen Körpers im Raum einordnen. Die Art der räumlichen Informationsverarbeitung, bei der Bestandteile der Umgebung, wie etwa auffällige Gebäude, Türme und Raumstrukturen, wie Flüsse und Straßen, auf die eigene Körperachse bezogen werden, wird als egozentrische Orientierung bezeichnet. Dabei geben wir Antworten auf Fragen wie: In welcher Richtung liegt mein Ziel oder mein Startpunkt? Wo befinde ich mich im Raum in Bezug auf wichtige Plätze, Gebäude oder Strukturen – auch wenn ich diese nicht sehen kann? Diese egozentrische Orientierung allein reicht aus, um von A nach B zu navigieren. Jedoch können Menschen ihr Wissen über eine Route auch aus einer anderen Perspektive sammeln. Bei der allozentrischen Vorstellung betrachten wir die Umgebung aus einer Art Vogelperspektive. Gedanklich zeichnen wir eine Karte von den Straßen, Gebäuden und Plätzen, auf die wir herabblicken. 

Je detaillierter unsere mentalen Repräsentationen sind, desto besser können wir alternative Wege an einem Ort finden. Unsere Orientierungsfähigkeit ist somit durch die Kapazität unseres räumlich-visuellen Arbeitsgedächtnisses geprägt. Wenn wir die egozentrisch geprägten visuellen Informationen zu einer räumlich-allozentrischen Karte zusammensetzen wollen, müssen wir die Perspektive „umrechnen“. Das geschieht nicht automatisch und kostet kognitive Kapazität. Räumliches Lernen erhalten wir also nicht „umsonst” – je bewusster wir uns mit unserer Umgebung auseinandersetzen, desto mehr Wissen können wir in unserer mentalen Karte speichern und abrufen.

Bei der allozentrischen Vorstellung zeichnen wir gedanklich eine Karte von den umliegenden Straßen, Gebäuden und Plätzen aus einer Vogelperspektive. Foto: Denise Jans/Unsplash

Der Weg ist das Ziel: Navigationssystem versus Orientierungssinn 

In Navigationssystemen blicken Benutzer*innen meist auf eine aus einer Vogelperspektive angezeigte Karte, die eine Route von A nach B vorschlägt. Dabei dreht sich die Ansicht so, dass das, was sich oberhalb unserer Position befindet, entspricht, was vor uns liegt. So verknüpft die sichtbare Karte die allozentrische Sicht mit der egozentrischen Perspektive. Der gezeigte Ausschnitt ist aber so klein, dass wir keine orientierende Übersicht bekommen. Folgen wir der gezeigten Route, dann entnehmen wir die für die Navigation nützlichen egozentrischen Anweisungen („in 100 m rechts”), nutzen aber die Karte nur rudimentär.  Denn das Navigationssystem und das menschliche Orientierungssystem versuchen unterschiedliche Problemstellungen zu lösen. Das Navigationssystem stellt die Frage: „Wie komme ich von A nach B?”. Unser kognitives System beim Orientieren hingegen fragt „Wo auf dem Weg von A nach B sind Orte, die ich als Richtungsweiser nutzen kann, um die eigene Position im Raum einzuordnen?”.

Im Navigationssystem werden wir von Abbiegepunkt zu Abbiegepunkt geführt, haben jedoch auf der stark extrahierten, allozentrischen Kartendarstellung kein umfassendes Bild von unserer aktuellen Umgebung. Um unser Arbeitsgedächtnis für die Orientierung nutzen zu können, brauchen wir charakteristische Landmarken, die wir als Fixpunkte in unsere mentalen Karten einbauen. Diese Wegweiser sind im Navigationssystem in der Kartenansicht meist nicht dargestellt, wir können uns nicht (länger) verorten.

Pins auf einer Karte, die der Orientierung dienen sollen
Um sich im Raum orientieren zu können und alternative Routenführungen zu finden, sammelt der Mensch Strukturmerkmale, wie Landmarken und baut sie in seine mentale Karte ein. Foto: Geojango Maps/Unsplash

Auch die dazugehörigen Audiokommentare, die auf Entfernungen reduziert und für Menschen oft nicht einschätzbar sind, verstärken die Diskrepanz zwischen dem menschlichen und digitalen System. So wäre die Ansage „kurz vor der Kirche links abbiegen” besser nachzuvollziehen als „in 300 m links abbiegen” und würde helfen, nach dem Abbiegen den Weg zurück zur Kirche wiederzufinden. 

Assistenz- oder Übernahmesystem?

Die Problemstellung des Navigationssystems „Wie komme ich von A nach B?” wird von Benutzer*innen übernommen und das eigene Orientierungssystem dabei in den Stand-By-Modus gesetzt. Google Maps, Apple-Karten oder andere Navigationsapps assistieren also nicht mehr nur, sie übernehmen – und geben Menschen kaum Informationen zu nützlicher Orientierung . Das Individuum hat keine Vorstellung davon, wo es sich im Raum befindet, sondern folgt „blind” dem vorgeschlagenen Weg. Nutzen Menschen Navigationssysteme, werden sie zum Teil tatsächlich inkompetenter, da sie ihr eigenes System nicht mehr nutzen und ihren Orientierungssinn nicht mehr trainieren. Gleichzeitig kann diese Inkompetenz Ängste verstärken, sich ohne Navigationssystem nicht mehr zurechtzufinden. Ein Teufelskreis beginnt. 

Guter Orientierungssinn trotz Navigationssystem?

Dennoch bieten Navigationssysteme Vorteile. Die digitalen Karten sind weltweit nahezu vollständig vorhanden. Menschen können damit fast überall komfortabel herausfinden, wo sie sich befinden. Im Auto können Navigationssysteme helfen, stressige Situationen in der Routenführung zu vermeiden. 

Zudem müssten Navigationssysteme nicht per se „dümmer” bzw. orientierungslos machen. In der Forschung werden Möglichkeiten erörtert, aus den Assistenz- eher Kooperationssysteme zu machen, die den Orientierungssinn fördern können. Ideen, das Arbeitsgedächtnis aktiv anzuregen und den Orientierungssinn zu trainieren, sind z.B. Landmarken präsenter auf Karten darzustellen oder auch, den Bildschirm für einige Kreuzungen schwarz zu tönen und anschließend den Standort abzufragen. 

Bis es soweit ist, können Nutzer*innen von Navigationssystemen lernen, den Komfort kritisch zu hinterfragen. Sich vorher mit dem Weg auseinanderzusetzen oder sich bei der Nutzung charakteristische Wegweiser einzuprägen, kann helfen, die Orientierung zu schulen. Denn: Auch ein Navigationssystem kann scheitern, wenn eine Baustelle den Weg versperrt. Die eigene Stadt zu erforschen und Erfahrungen auszutauschen, könnte bald auch mit Navigationssystemen möglich sein. Wenn der Mensch sich nicht mehr nur passiv navigieren lässt, sondern auch unter Verwendung eines Navigationssystems die kognitive Karte beansprucht, machen die digitalen Karten auch nicht mehr orientierungslos. 

Bei der Beantwortung der Frage half Prof. Dr. Stefan Münzer. Er leitet den Lehrstuhl für Bildungspsychologie an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Mannheim. Als Experte in dem Themenfeld der „Visualisierung: Räumliche Strukturen, Orientierung und Navigation” veröffentlichte er zahlreiche Studien zu den Auswirkungen von Navigationssystemen auf die Orientierungsfähigkeit und räumliches Denken. 

Redaktion: Rosa Steffens