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Was hat die Beschleunigung mit Einsteins Zwillingsparadoxon zu tun?

29. Februar 2008

  • D Naturwissenschaften und Mathematik

Was hat die Beschleunigung mit Einsteins Zwillingsparadoxon zu tun?

Im Grunde ist die Antwort bereits vollständig in meiner Diskussion des Zwillingsparadoxons unter http://wase.urz.uni-magdeburg.de/kassner/srt/crashcourse/zwillingsparadoxon.html enthalten.

Einige Zusatzbemerkungen sind vielleicht hilfreich.  Die Beschleunigung spielt bei der gesamten Diskussion des Zwillingsparadoxons im Rahmen der speziellen Relativitätstheorie nur eine untergeordnete Rolle.  Ihr wesentlicher Effekt ist es, den Übergang von einem Inertialsystem in ein anderes zu bewirken. Ein Inertialsystem ist ein Koordinatensystem, das sich geradlinig mit konstanter Geschwindigkeit bewegt.

Man kann sich statt des Zwillingsparadoxons das sogenannte Uhrenparadoxon ansehen, in dem überhaupt keine Beschleunigungen vorkommen.  Statt des wegfliegenden und zurückkehrenden Zwillings hat man eine wegfliegende und eine auf die Erde zufliegende Uhr, wobei letztere in dem Moment, wo sie an der wegfliegenden Uhr vorbeifliegt, auf dieselbe Zeit gestellt wird wie die wegfliegende. 

Auch in diesem Fall ist die Summe der Zeiten der beiden nicht auf der Erde sitzenden Uhren geringer als die auf einer Erduhr vergangene Zeit - und gleich groß wie die Zeit, die für den Zwilling vergeht, der erst mit der gleichen Geschwindigkeit wie die eine Uhr und dann mit der gleichen Geschwindigkeit wie die andere Uhr fliegt (und beim Treffpunkt der Uhren umkehrt, d.h. seine Geschwindigkeit auf Null verringert hat).

Der entscheidende Grund dafür, dass auf der Erde mehr Zeit vergeht, liegt darin, dass in einem gegebenen Inertialsystem gleichzeitige Ereignisse, die nicht am selben Ort stattfinden, in einem anderen Inertialsystem (d.h. einem Inertialsystem mit anderer Geschwindigkeit) nicht gleichzeitig sind. 

Das sieht man am leichtesten in einer graphischen Darstellung der Lorentztransformationen.

In dem schwarzen Koordinatensystem, das zum Beispiel das Bezugssystem der Erde darstellen könnte, bewegt sich ein mit konstanter Geschwindigkeit nach rechts fliegendes Objekt (etwa der Astronautenzwilling) entlang einer Weltlinie, die durch die mit ct' bezeichnete Achse gegeben ist.  Da der Astronaut aus seiner eigenen Sicht in Ruhe ist, ist seine Weltlinie auch identisch mit seiner Zeitachse (die Gleichung der ct'-Achse ist ja x'=0). 

Man schreibt in diesen Diagrammen gern das Produkt ct (oder ct') aus Lichtgeschwindigkeit und Zeit statt der Zeit t allein an die Achse, weil dann die Weltlinie des Lichts einfach die erste Winkelhalbierende ist (rote Linie).  Dies ermöglicht auf der Grundlage des Relativitätsprinzips und der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit sofort die Angabe der Abszissenachse des Astronauten.  Die x'-Achse muss nämlich so liegen, dass die rote Linie auch für das x'ct'-Koordinatensystem Winkelhalbierende wird.  Andererseits ist die x'-Achse aber der Ort aller Punkte mit Zeit t'=0. Damit sind für den Astronauten alle Punkte auf der x'-Achse gleichzeitig, während es für den Erdbeobachter umso später wird, je weiter man auf der x'-Achse nach rechts wandert.  Umgekehrt sind für den Erdbeobachter alle Punkte auf der x-Achse gleichzeitig (t=0), während es für den Astronauten umso früher wird, je weiter man auf der x-Achse nach rechts geht.

Nun können wir genau feststellen, was während der Umkehr des Astronautenzwillings passiert, indem wir das entsprechende Raumzeitdiagramm anschauen.

Hier sind eingezeichnet in schwarz das Koordinatensystem der Erde, in dunkelblau das des Astronauten beim Wegfliegen und in magenta das des Astronauten beim Zurückfliegen.  Die grünen Hyperbeln kann man benützen, um die Zeitspannen beim Hin- und Rückflug mit denen auf der Erde zu vergleichen.  Delta t' ist die aus der Sicht des Astronauten jeweils auf der Erde vergehende Zeit, und die Hyperbeln demonstrieren, dass diese Zeiten tatsächlich kürzer sind als die im Raumschiff vergehenden Zeiten.

Aber beim Umkehren passiert etwas.  Die Parallele zur x'-Achse, die aus der Sicht des Astronauten vor dem Umkehren angab, welcher Moment auf der Erde gleichzeitig mit dem Zünden seiner Raketen war, geht über in die x"-Achse, die aus der Sicht des Astronauten angibt, welcher Moment auf der Erde gleichzeitig mit dem Brennschluss seiner Raketen ist. (Nach dem Umkehren hat sich also die "Gleichzeitigkeit" des Astronauten gegenüber vorher verändert.) 

Wie man sieht, sind diese Zeitpunkte auf der Erde weit voneinander entfernt, nämlich um Jahre, wenn der gesamte Flug Jahre dauert (die Lücke zwischen den beiden Intervallen Delta t* ist ein substantieller Bruchteil der gesamten Flugzeit).  Dieser Abstand wäre doppelt so groß, wenn der Astronaut doppelt so weit geflogen wäre, selbst wenn er mit exakt dem gleichen Beschleunigungsprogramm umgekehrt wäre.  Was zählt, ist also nicht die Beschleunigung, sondern die Entfernung!  Entscheidend ist die Änderung der "Hyperfläche simultaner Ereignisse" durch den Umkehrprozess, nicht die Beschleunigung - die man aber natürlich braucht, um umkehren zu können. 

Das ist im Wesentlichen die vollständige Antwort im Rahmen der Speziellen Relativitätstheorie.

Ist man gewillt, die allgemeine Relativitätstheorie heranzuziehen (was aber zur Erklärung nicht notwendig ist), wird die Antwort in gewisser Weise einfacher.

In der allgemeinen Relativitätstheorie unterscheiden sich die physikalischen Gesetze in Inertialsystemen nicht grundsätzlich von denen in Nichtinertialsystemen, man könnte auch auf den Begriff des Inertialsystems verzichten.  Dann kann sich der Astronaut während des ganzen Fluges als in Ruhe befindlich ansehen.  Zunächst fliegt die Erde von ihm weg.  Wenn er seine Raketentriebwerke einschaltet, tritt ein Gravitationsfeld auf, das die Erde abbremst und auf ihn zu beschleunigt - er selbst bleibt in Ruhe, weil die Raketentriebwerke verhindern, dass er im Gravitationsfeld nach "unten" fällt.  Schließlich verschwindet das Gravitationsfeld mit dem Abschalten seiner Triebwerke und die Erde bewegt sich auf ihn mit konstanter Geschwindigkeit zu. 

Der Zeitablauf auf der Erde im Vergleich zu dem des Astronauten ist zum einen bestimmt durch die Geschwindigkeit der Erde, das gibt immer eine Zeitdilatation; zum anderen - während der Existenz des Gravitationsfeldes - dadurch, dass in einem Gravitationsfeld Uhren umso schneller gehen, je höher ihr Gravitationspotential ist.  Da die Erde auf den Astronauten zufällt, befindet sie sich während der Anwesenheit des homogenen Graviatationsfeldes auf höherem Potential - und zwar umso höher, je weiter weg sie ist - d.h. ihre Zeit geht schneller.  Auch hier ist also die Entfernung wichtig und nicht der Wert der Beschleunigung (die in der allgemeinen Relativitätstheorie einem Gravitationsfeld äquivalent ist). Der Wert der Beschleunigung ist deswegen unwichtig, weil eine höhere Beschleunigung zwar zu einem höheren Gravitationspotential führt, dieses aber nur für eine kürzere Zeitspanne vorhanden ist (denn die Triebwerke müssen ja wieder abgeschaltet werden, sobald die richtige Geschwindigkeit für die Rückkehr der Erde erreicht ist). 

Das ist die Erklärung des Zwillingsparadoxons im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie.

Die Frage wurde beantwortet von Prof. Dr. Klaus Kassner vom Institut fuer Theoretische Physik/Computerorientierte Theor. Physik der Otto-von-Guericke-Universitaet Magdeburg.