Logo Wissenschaft im Dialog Wissenschaft im Dialog

Zurück zu „Wie?So!“

Wer ist schmerzempfindlicher: Frauen oder Männer?

29. September 2022

  • D Naturwissenschaften und Mathematik
  • C Geistes- und Sozialwissenschaften
Statue einer verwundeten Amazone Array

Statue einer verwundeten Amazone, Foto: Metropolitan Museum of Art

Wer ist schmerzempfindlicher: Frauen oder Männer1

In einem millionenfach geklickten Video wurden Cowboys bei einer Landwirtschaftsausstellung im kanadischen Calgary mit einem ungewöhnlichen „Rodeo” konfrontiert. Sie probierten einen Periodenschmerzsimulator aus – und das ganze Internet lacht. Die coolen Cowboys stießen dabei ziemlich schnell an ihre Grenzen, verzogen ihre Gesichter zu Grimassen und brachen den Versuch vor Schmerzen gekrümmt ab. In dem Videozusammenschnitt wird auch eine Frau gezeigt. „Ja, es tut weh…”, sagt sie und zuckt lächelnd mit den Schultern. 

Damit scheint sich ein Klischee zu bestätigen: Frauen können mehr Schmerzen ertragen als Männer. Einer von vielen Mythen, die sich um das Schmerzempfinden von Menschen ranken. Auf der einen Seite „kennen taffe Männer keinen Schmerz”, auf der anderen Seite liegen sie im Werbespot mit der „Männergrippe” weinerlich auf der Couch. Frauen können angeblich mehr Schmerzen ertragen, dennoch gelten sie zugleich als „schwaches Geschlecht”, als zarte Geschöpfe, die in alten Filmen beim Anblick des kleinsten Bluttropfens in Ohnmacht sinken. Diese Genderstereotype sind im Laufe der Zeit entstanden und haben nur wenig mit Wissenschaft zu tun. 

Grundsätzlich unterscheidet man in der Forschung zwischen dem biologischen Geschlecht (englisch: „sex”) und sozialisierten Geschlecht (englisch: „gender”). Der wissenschaftliche Betrieb bewegt sich langsam, und die konservativen Geschlechterrollen der 50er und 60er Jahre führten dazu, dass lange Zeit – wenn überhaupt – biologisches Geschlecht betrachtet wurde. Erst in letzten 20 Jahren haben Schmerzforscher*innen angefangen, sich ernsthaft mit Sex und Gender zu beschäftigen. 

Dabei wäre es auch aus medizinischer Sicht besonders wichtig, ein kritisches Auge auf Geschlechterrollen zu richten. Empirische Daten zeigten nämlich, dass von Frauen ausgedrückte Schmerzen unterschätzt werden – sowohl von männlichen als auch weiblichen Versuchspersonen. Altmodische Geschlechterstereotypen können so zu Fehlbehandlungen und zur Aufrechterhaltung chronischer (also länger als sechs Monate andauernder) Schmerzen beitragen. Über das Schmerzerleben von trans und nicht-binären Personen beispielsweise wissen wir wenig bis gar nichts.

Frau erleidet Schmerzen bei Injektion
Abbildung einer Injektion in einem Krankenhaus in New Orleans, Foto: Wikimedia

Einige Tiermodelle deuten auf Unterschiede hin

Auch die medizinische Forschung kämpft mit Geschlechterstereotypen. So wurden für Tierversuchsstudien an Mäusen historisch ausschließlich männliche Tiere genutzt. Weibliche Mäuse galten aufgrund ihrer Hormonschwankungen als schwierig zu untersuchen. Warum das problematisch ist, zeigt eine Studie vom kanadischen Schmerzforscher Jeffrey Mogil.

In einem 2015 im Journal Nature Neuroscience erschienenen Artikel berichtete sein Team, dass die Schmerzverarbeitung bei weiblichen Mäusen einen anderen Mechanismus hat als die von männlichen Mäusen. Bei Schmerzüberempfindlichkeit spielen unterschiedliche Immunzellen eine Rolle. Die Wissenschaftler*innen schlossen daraus, dass es zutiefst problematisch wäre, weiterhin überwiegend männliche Ratten und Mäuse als Modellmechanismen in der Schmerzforschung zu verwenden. Denn wenn ausschließlich männliche Ratten als Modell für weibliche und männliche Schmerzpatient*innen dienen, führt das besonders in der Entwicklung von Medikamenten zu vermeidbaren Problemen. 

Von Mäusen zum Menschen

Daraus wird ersichtlich, wie komplex das Thema ist und wie wenig gesichertes Wissen es bisher dazu gibt. Ein häufig zitiertes Review-Paper aus dem Jahr 2012 von Melanie Racine und Kolleg*innen zieht entsprechend ein ernüchterndes Resümee über zehn Jahre Schmerzforschung. Zwar zeichnet sich eine Tendenz ab, dass es eine höhere Schmerzempfindlichkeit von Frauen gibt, aber die Ergebnisse variieren so stark und sind so sehr abhängig von der Messmethode, dass die Autor*innen diesen generellen Schluss nicht für zulässig halten. 

In ihrem Artikel identifizierten sie außerdem zahlreiche methodische Probleme, die eine grundsätzliche Aussage erschweren. Viele der über 100 Studien testeten sehr kleine Stichproben, die wenig Aussagekraft über die gesamte Population haben. Und einige der geprüften Fachartikel berichteten ausschließlich die Ergebnisse, die Geschlechterunterschiede zeigten. Dabei fielen Ergebnisse, die nicht zur Geschichte der jeweiligen Artikel passen, unter den Tisch.  

Hinzu kommt, dass Schmerzen sehr subjektiv sind. Für manche ist ein Muskelkater nach dem Joggen der Maximalwert der inneren Schmerzskala. Andere haben in ihrem Leben schon ernste Verletzungen gehabt. Für einige Personen ist eine Spritze ein vernachlässigbarer kleiner Piekser, andere kommen allein beim Gedanken daran ins Schwitzen. Das sorgt bei der Beantwortung von Schmerzskalen („Wie stark ist der Schmerz auf einer Skala von eins bis zehn?”) für Probleme.

Frauen haben eine geringfügig niedrigere Schmerzschwelle

Manche Methoden zur Messung von Schmerzen werden weniger stark durch Geschlechterrollen beeinflusst als andere. In einem Fachartikel verglichen Forschende Schmerzschwellen, also den niedrigsten Reiz, bei dem eine Person Schmerzen spürt, von hunderten von gesunden und chronisch erkrankten Versuchspersonen. Diese Methode ist im Vergleich zur Schmerztoleranz, also wie viele Schmerzen eine Person aushalten kann, relativ robust. 

Sowohl bei gesunden als auch kranken Versuchspersonen gab es kleine Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Frauen berichteten früher als männliche Versuchspersonen, dass Kälte, Hitze und Nadelstiche schmerzhaft waren. Ein ähnliches Muster ließ sich bei Patient*innen mit chronischen Schmerzerkrankungen beobachten. Jedoch gaben die Autor*innen zu bedenken, dass diese Mittelwertsunterschiede nur auf der Gruppenebene sichtbar und sonst zu klein waren, um praktisch relevant zu sein. Und: Innerhalb der Geschlechtergruppen traten größere Unterschiede auf als zwischen den Gruppen. 

Eine klinische Lektion in Salpêtrière 1887
Eine klinische Lektion in Salpêtrière. Ein Neurologe zeigt den Medizinstudierenden eine „hysterische” Frau. Die krampfartige Bewegung wird auch auf einer Tafel im Hintergrund links gezeigt. Im 19. Jahrhundert galt die heute überholte Diagnose „Hysterie” als Sammelbegriff für alle möglichen „Frauenleiden”. Foto: Wikipedia

Geschlechterunterschiede bei chronischen Schmerzen

Mogil und Kolleg*innen gelang 2022 erneut ein Durchbruch. Sie konnten identifizieren, was für ein Element im Mausmodell zur Chronifizierung, also der Verstetigung, von nervlich bedingten Schmerzen beitrug. Nach einer nervlichen Verletzung der Immunzellen von Mäusen wurden sogenannte perineuronale Netze geschädigt. Deren Schädigung wiederum führte zu einer verstärkten Aktivität von Projektionsneuronen und stärkeren Schmerzen. Unterschiede zwischen männlichen oder weiblichen Mäusen gab es dabei keine. 

Beim Menschen gibt es viele chronische Schmerzerkrankungen, die häufiger bei Frauen diagnostiziert werden. Zu ihnen gehören zum Beispiel Migräne, Fibromyalgie und Endometriose, die Unterleibs-Erkrankung, auf die eigentlich mit dem Periodenschmerzsimulator im viralen Video aufmerksam gemacht werden sollte. Die Ursache von Geschlechterunterschieden bei akuten und chronischen Schmerzen ist immer noch ein ungelöstes wissenschaftliches Rätsel. Studien haben gezeigt, dass Frauen bei Schmerzen häufiger Ärzt*innen aufsuchen als Männer, und so möglicherweise die Chance eine Diagnose zu erhalten, erhöhen. 

Andere Ursachen können – unter anderem – genetischer oder hormoneller Natur sein. Bei Migräne, die lange Zeit als zu wenig erforscht galt, findet man heute Zusammenhänge zwischen altersbedingten Schwankungen des Östrogenlevels und der Symptomatik. Das Problem ist, dass es, anders als zum Beispiel bei Diabetes Typ 1, bei Schmerzerkrankungen häufig nicht einen einzigen ursächlichen Faktor gibt. Der Begriff „Schmerz” ist so weit gefasst, dass darunter fallende Erkrankungen nicht mit einem Allheilmittel behandelt werden können. Erfolgversprechend sind Therapien, die nicht nur medikamentös, sondern auch sozial und psychologisch begleitet werden. 

Ein Blick in die Zukunft

Mittlerweile setzen viele wissenschaftliche Top-Journale die Einbeziehung nach Geschlecht aufgeschlüsselter Daten voraus. In Deutschland, vielen europäischen Ländern, den USA und Kanada haben Förderorganisationen vorgegeben, dass Geschlecht als biologische Variable einbezogen werden muss. Seit 2017 vergibt das Berlin Institute of Health jährlich den Exzellenzpreis für Sex- und Genderaspekte in der Gesundheitsforschung

Auch in der Lehre wird der geschlechtersensiblen Medizin mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Im Modellstudiengang Humanmedizin an der Charité Berlin wurde das Thema Gender systematisch in die Module integriert. An der Universität Witte-Herdecke startete kürzlich ein Projekt zur geschlechtsspezifischen Therapie bei Schmerzen. Das Team möchte eine Intervention mit Hilfe von Fortbildungen für Hausärzt*innen testen und die Erkenntnisse anschließend in die Praxis überführen. 

Insgesamt lassen sich also einige positive Trends in der Schmerzforschung verzeichnen, die uns vielleicht ein Stückchen näher an eine bessere Behandlung von chronischen Schmerzen und eine geschlechtergerechte medizinische Versorgung bringen. Ob nun aber Frauen oder Männer schmerzempfindlicher sind, ist wohl eine Frage, die sich auch in Zukunft nur schwer klar beantworten lassen wird. Auf dem Weg zu einer besseren Therapie von Schmerzpatient*innen scheint ein stärkerer Fokus auf soziale Rollen, psychologische und gesellschaftliche Faktoren allerdings zielführender.

Links

Der Periodenschmerzsimulator: https://www.youtube.com/watch?v=PuiWm2Lb-hk 
Ressourcen für Patient*innen: https://www.schmerzgesellschaft.de/ 

Bei der Beantwortung der Frage halfen Dr. Sabrina Coninx (Ruhr Universität Bochum) und Dr. Jan Vollert (Imperial College London). Dr. Sabrina Coninx ist Postdoktorandin und wissenschaftliche Koordinatorin des DFG-geförderten Graduiertenkollegs Situated Cognition. Die Philosophin forscht zu Schmerzen, chronischen Erkrankungen und affektiven Störungen. Für Ihre Dissertation zum Thema Schmerzen erhielt sie den Wilhelm-Hollenberg-Preis der Ruhr Universität Bochum. Dr. Jan Vollert ist Bioinformatiker. Er beschäftigt sich mit der Anwendung von statistischen und computergestützten Modellen in der Schmerzforschung. Dr. Vollert ist Mitglied der „International Association for the Study of Pain (IASP)” und deren Special Interest Group für neuropathische Schmerzen, wo er sich in der Öffentlichkeitsarbeit und der Vertretung von Auszubildenden engagiert.

Redaktion: Anna Henschel

1Es gibt nicht nur Frauen und Männer. Dennoch wurde der Großteil der vorgestellten Forschung mit cis-Männern und cis-Frauen durchgeführt. Wo trans Personen beteiligt waren, sind sie explizit in die Begriffe „Frau" und „Mann" mit eingeschlossen. Hoffentlich ändert sich die Datenlage in den kommenden Jahren und wir können die Erfahrungen von mehr trans-, inter- und nicht-binären Personen ergänzen.